Im Zuge der Blogwichtelaktion im Texttreff wurde ich von meiner Kollegin Elke H. Speidel mit einem wortspielerischen Märchen beschenkt. 🙂
Das Wort, das vor dem Anfang war
Oder: Wie sich aus Buchstaben die Welt ersinnen lässt
Es war einmal ein kleines Wort, und das Wort war nicht bei bei Gott, und Gott war nicht das Wort, weil es lange vor dem Anfang war. Das Wort war zu klein, um gelassen ausgesprochen zu werden. Es war so klein, dass es lieber ausgelassen herumtollen wollte, mit all den vielen noch kleineren Buchstaben und Lauten um es herum, die darauf warteten, dass jemand käme, um aus ihnen Wörter zu ersinnen.
Das Ausgelassensein fiel dem Wort nicht schwer, denn zu der Zeit hatte sich noch kein Wort auf eine Satzstruktur oder eine grammatikalische Regel eingelassen. Wie Schneeflocken geisterten Punkte und Doppelpunkte, Komma- und Bindestriche, Ausrufe- und Fragezeichen auf ihrer allerersten Litera-Tour durchs Dunkel des Nichtssagens, umgeben von sorgfältig gemalten Schriftzeichen aller Größen, Farben und Definitionen, von Akzenthäkchen, Tilden und Ziffersymbolen.
Weil auch die Laute damals noch keine Buchstabenpartner gefunden hatten, klirrten und tönten, brummten und summten sie frei zwischen den Zeichen herum, fügten sich kurz zu Melodieansätzen aneinander oder sammelten sich für einen Augenblick zu Akkorden, ehe sie wieder auseinanderdrifteten, um sich mit den unpassendsten Buchstaben zu einem Reigen zu vereinen, wie es junges, unverständiges Volk gern zu tun pflegt. Das kleine Wort hörte ihnen zu und erfreute sich eine Weile an ihrem losen Durcheinander, denn es hatte nichts zu tun, als auf den Anfang zu warten.
Es hatte Angst vor diesem Anfang, denn aller Anfang, das wusste es, war schwer. Und schwere Sachen mochte das kleine Wort nicht. Schwere Sachen lagen einem im Magen wie Steine und drückten einem auf den Leichtmut, bis er schwer wurde wie sie. Wenn sie fällig wurden, die schweren Sachen, war es aus mit dem schwerelosen Schweben zwischen Sinn und Unsinn, das für ein ausgelassenes Wort der Inbegriff des Frohsinns war.
Aber das Warten auf den Anfang dauerte lange, lange, lange, und irgendwann begann das kleine Wort, sich sehr allein zu fühlen zwischen dem sinnlosen Tönen und Tanzen der Laute und Buchstaben. So machte es sich auf die Suche nach einem anderen Wort, einem kleinen oder einem großen, das war ihm egal, nur Sinn sollte es tragen. Denn Tragenkönnen war wichtig, wenn man sich vom schweren Anfang nicht ganz erdrücken lassen wollte. Schließlich trug das kleine Wort selbst einen Sinn, wenn ich auch nicht sagen kann, welcher das war, weil es mich damals, vor dem Anfang, nicht gegeben hat.
Was es mit dem anderen Wort wollte, war dem kleinen Wort nicht klar. Vielleicht wollte es sich mit ihm zusammentun, um ein größeres Wort zu werden, vielleicht den ersten Zwei-Wort-Satz mit ihm bilden, vielleicht nebeneinander in einem dicken, fetten Wörterbuch wohnen, das Gleiche oder fast das Gleiche bedeutend und doch ganz anders klingend? Vielleicht wollte es sich mit ihm zusammen der Litera-Tour verschreiben oder wahlweise eine wichtige Liste anführen?
Wie auch immer — es fand kein anderes Wort, denn es gab noch keines. Wortlos wehten die Zeichen an ihm vorüber, wortlos rauschten die Laute durch den Blätterwald, von dem das kleine Wort nur träumen konnte, weil er mangels Sätzen und Absätzen, Seiten und Deckseiten nicht existierte. Traurig begann das kleine Wort, einzelne Zeichen anzusprechen. Aber sie antworteten ihm nicht, denn Zeichen ohne Laute sind nichts als Krikelkrakel, die keine Stimme haben.
Daher probierte es das kleine Wort lieber bei den Lauten.
„Du“, sagte es zu einem hart hallenden Klang. „Steht dir der Sinn danach, mit mir zusammen auf den Anfang zu warten? Denn der Anfang wird schwer, und vereint sind auch wir Schwachen mächtig!“
„Ah“, sagte der Klang, als wäre das eine guter Plan — aber mehr brachte er nicht zuwege. Immerhin war er jedoch neugierig geworden und trabte dem kleinen Wort artig hinterher.
„Du“, sagte das eine Weile später zu einem hohl vorüber orgelnden Ton, „Steht dir der Sinn danach, mit mir und dem klaren Ah zusammen auf den Anfang zu warten? Denn der Anfang wird schwer, und vereint sind auch wir Schwachen mächtig!“
„Oh“, sagte der Ton, und es klang froh, aber mehr brachte er nicht zuwege. Immerhin war er jedoch neugierig geworden und toste dem kleinen Wort und dem klaren Ah hinterher.
Gemeinsam sahen sie, dass gerade zwei Buchstaben mit einem Laut zusammenstießen.
„Wer seid ihr?“, fragte das kleine Wort.
„Ch,“ fauchten die drei. Es klang wie K.
„Steht euch der Sinn danach, mit uns zusammen auf den Anfang zu warten? Denn der Anfang wird schwer, und vereint sind auch wir Schwachen mächtig!“
„Ch“, machte der Klumpen, ohne näher darauf einzugehen. Aber er schloss sich dem kleinen Wort, dem klaren Ah und dem hohlen Oh einfach an, in allen Farben schillernd wie ein Chamäleon.
Unterwegs stießen sie auf die Buchstaben A und O, die sich freuten, ihre Laute gefunden zu haben, und so zogen sie in Zweierreihen weiter, das Ah und das A, das Oh und das O, das kleine Wort und der Ch-Klumpen, Ton-in-Ton.
Manchmal waren die einen vorne, manchmal die anderen, Aok, Ahohch, Oak, Ohahch, Koa, Chohah, Kao, Chahoh … Lustig klang das, und lustig sah es auch aus.
„Aber es trägt keinen Sinn“, sagte das kleine Wort traurig zu sich. „Das war es nicht, was ich wollte.“
„Sssssssss“, säuselte ein Sirren ihm entgegen, „ssssss!“
„Wer bist du denn?“, fragte das kleine Wort.
„Ssssssss“, säuselte das Sirren und gesellte sich wie selbstverständlich zu der suchenden Gruppe.
Bald fanden sie das passende Zeichen dazu, da es sich im Sirren verhakte und so signalisierte, dass es beim Suchen dabeisein wollte.
Aoks, Ahohchssssssss, Oaks, Ohahchssssssss, Koas, Chohahssssssss, Kaos, Chahohssssssss … CHAOS … CHAOS … CHAOS — die Buchstaben und Laute verhedderten sich unentwirrbar zu diesem Klangbild.
„Chaos! Das klingt nach einem neuen Wort!“ So rief das kleine Wort fröhlich. „Daraus lässt sich doch etwas machen!“
Und Gott schmunzelte zustimmend und ließ sie weiterreisen auf ihrer Litera-Tour, dem schweren Anfang entgegen, den er schließlich irgendwann mit einem Urknall startete.
Elke H. Speidel ist Journalistin, Soziologin und verfasst in ihrer Freizeit auch belletristische Texte. Volontiert hat sie 1979 bis 1981 beim Zeitungsverlag Waiblingen, seit 1988 ist sie als Fachjournalistin für technische Themen selbstständig. 2010 hat sie ihr Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an der FernUniversität in Hagen als Magistra Artium abgeschlossen. Außerdem bietet sie Coaching für Privatpersonen (seit 2012) an und bloggt unter https://elkespeidel.wordpress.com
Elke H. Speidel
Danke fürs Veröffentlichen, liebe Kerstin!
Heinke Paridon
Ich liebe das kleine Wort, das sich durchgesetzt hat und Mut zum Chaosbekam!
Elke H. Speidel
Danke für die Blumen! Mir war es auch gleich sympathisch ;).
maria
Einfach nur WOW! Mit vielen zchs und ööös und brmpf!